Neue Chancen für alte Stoffe

„Handwerks Gwerch“ in der Altstadt – Geliebte Kleidungsstücke in guten Händen

ROTHENBURG – Was vor Jahrzehnten noch fast alltäglich war, ist inzwischen eher zu einer gewissen Besonderheit geworden bei der standardisierten Massenware mit ihren Einheitsgrößen: Ein Kleidungsstück passend zur Figur zu machen, beschädigte Teile zu reparieren oder die Aufwertung abgetragener Garderobe zu etwas Neuem.

Mirjana Neumeister bringt in der Änderungsschneiderei Kleidungsstücke auf Vordermann. Foto: sis

Aus Alt mach Neu. Mirjana Neumeister hat den Nachhaltigkeitstrend „Upcycling“ schon betrieben, als er noch nicht in Mode war. Dieses Geschäftsmodell ist kreativer Bestandteil ihrer Änderungsschneiderei, die gut zu tun hat. Reißverschlüsse austauschen, Kleidungsstücke kürzen, verlängern oder weiten, Innenfutter ersetzen: bei Kleider, Röcke, Jacken, Anzüge, Sakko, Hemd, Bluse oder Hose. Was nicht richtig passt oder irgendwo zwickt wird mit dem notwendigen Können passend gemacht.

Vor fünfzehn Jahren hat sich die gebürtige Bosnierin in Rothenburg selbstständig gemacht und im Alten Stadtgraben ihr erstes Geschäft eröffnet. In ihren Anfängen konzentrierte sie sich auf Brautmoden. Als Teenager war sie mit ihrer Schwester vor dem Krieg in ihrem Land geflüchtet. Ihre Eltern lebten und arbeiteten seinerzeit schon in Deutschland und holten ihre beiden Töchter nach.
Die damals 17-jährige Mirjana fand sich in der neuen Umgebung schnell zurecht. Ihre offene und kontaktfreudige Art trug dazu bei, dass sie sich mit der Integration nicht schwer tat. Sie schlug neue Wurzeln und gründete eine Familie. Während der laufenden Elternzeit nach der Geburt ihrer beiden Kinder ließ die gelernte Näherin den Geschäftsbetrieb im Alten Stadtgraben ruhen und ging Heimarbeit nach.
Als Sohn und Tochter aus dem Gröbsten heraus waren, baute sich Mirjana Neumeister ein neues Ladengeschäft auf – erneut im Alten Stadtgraben. Ihre vielseitige Änderungsschneiderei erweiterte sie um Stoffhandel, Nähzubehör und einen Nähtreff, der offen ist für Menschen, die bereits nähen können und lediglich ihre Maschinen nutzen möchten. Oder praktisch angeleitet werden wollen beim Reparieren beziehungsweise Um­ändern ihrer Lieblingsteile. Die zentrale Anlaufstelle für die kreative Umsetzung der Wiederverwertungsidee hat auch einen schönen Namen: „Handwerks Gwerch“.
Mirjana Neumeister fing an, unbenutzte Originalstoffe, die auf Ballen gewickelt sind und ausrangiert werden, von einer großen Handelskette aufzukaufen und sie damit so vor dem Wertstoffhof zu retten. Die Muster versprühen einen schönen nostalgischen Charme. Dies hat sich schnell bei Hobbyschneiderinnen herumgesprochen, die daraus einzigartige Kleidungsstücke und Accessoires fertigen. Sogar Bühnenkostüme für eine Mittelalter-Band und Gewänder für die Reichsstadttage wurden von einer Hobbyschneiderin schon in den Räumen von Mirjana Neumeister genäht. Mit Hilfe der alten Stoffe und Knöpfe entstand authentische, historische Gewandung.
Mirjana Neumeister bessert Berufskleidung aus, beispielsweise von Köchen und Soldaten. Sie repariert Risse und Löcher in der Motorradkluft, in Markisen und in Fliegenhauben für empfindliche Pferdeohren. Einem Förster flickte sie den beschädigten Ganzkörperanzug für kalte Winternächte auf dem Hochsitz. Auch Anhänger der Gothic- und Latex-Szene mit ihren ausgefallenen Wünschen gehören zur Kundschaft.
In Regina Wügner hat Mirjana Neumeister eine tüchtige Mitarbeiterin gefunden. Die gelernte Bekleidungsfertigerin ist vom Wollegeschäft in die Änderungsschneiderei gewechselt und hat Freude an kreativer Handarbeit. Zusätzlich würde Mirjana Neumeister noch stundenweise jemanden einstellen für jegliche Art  von Näharbeiten – leider bisher vergeb­lich.
Die Ladenausstattung ist eine Vielfalt individueller Lösungen. Gebrauchte Obst- und Gemüsekisten, Regale und Schränke, die sie hergerichtet hat, bieten viele Möglichkeiten zum Verstauen und sehen auch noch hübsch und dekorativ aus. Es gibt sogar eine Buchtauschbörse im Laden. Wer  Bücher nicht zu Hause herumstehen haben will, aber sie auch nicht wegwerfen mag, kann sich am kostenlosen Austausch von Lesestoff beteiligen – begleitet von dem schönen Gefühl, dass jedes Buch wohl einen seelenverwandten Leser findet.
Desöfteren war Mirjana Neumeister schon in der Montessori-Schule mit ihren Nähmaschinen, um mit den Eltern gemeinsam zu nähen. Ebenso verbindet sie Kindergeburtstag und Nähprojekte zu einem unterhaltsamen Nachmittag. Gymnasiasten stand Mirjana Neumeister bei einem Praxisseminar zur Seite. Die Schülerinnen und Schüler beschäftigten sich mit den ökologischen und sozialen Konsequenzen des Textilkonsums. Im Nähtreff lernten sie, ausrangierte T-Shirts, Hosen, Blusen und Hemden modisch aufzupeppen oder etwas vollkommen Neues daraus zu nähen. Die Modenschau in der „Molkerei“ in Verbindung mit einer kleinen Einführung in die Welt von nachhaltigem Design, Recycling und Upcycling fand großen Zuspruch bei den Besuchern.
Was mit Kleidung aus dem Altkleider-Container passiert, kann man nicht unbedingt Recycling nennen. Mehr als die Hälfte der gebrauchten Kleidung wird ins Ausland, meist Osteuropa oder Afrika verkauft und weiterverwendet – statt wiederverwertet. Der Rest taugt nur noch für weniger aufwändige Stoffe wie zum Beispiel Putzlappen, Autoinnenverkleidungen oder Malerfilze.
Dazu müssen Stoffe aufwändig bearbeitet werden. Nach Material und Farben sortiert, dann meist gereinigt oder entfärbt und von Knöpfen und Reißverschlüssen befreit werden, bevor sie in den Schredder geworfen werden. Nach dem Schreddern sind die Fasern dann zu kurz und zu grob, um wieder T-Shirts oder Hosen aus dem entstandenen Material zu produzieren. Nur Schnittreste eignen sich dann noch zur Wiederverwertung.
Mit Basel aus Syrien und Besarta aus Albanien engagierte sich das „Handwerks Gwerch“ in der Flüchtlingshilfe. Zusätzlich unterstützt von Simona Zrimic begann Mirjana Neumeister Kleidung, Schuhe und was sonst gebraucht wurde, für Flüchtlinge zu organisieren  und tragbar aufzubereiten. Als der Arbeitskreis Asyl seine Kleiderkammer eröffnete, engagierte sich Mirjana Neumeister dort.
Für die  Frühlings-Stadtmosphäre tat sich Mirjana Neumeister mit der Theaterpädagogin  Christina Löblein zusammen. „Theatergarn“ haben sie ihr gemeinsames Programm betitelt. Es handelt sich um eine witzige Spaß-Verkleidung mit Fotoaktion in der Näh- und Kreativwerkstatt und startet am Samstag ab 14 Uhr. Am Sonntag zeigt Mirjana Neumeister im Laden, wie es in einfachen Schritten geht, ein schönes Utensilo aus Stoff zu nähen, das sich für die Aufbewahrung von Kleinigkeiten eignet.   sis

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